An meinen Argumenten von 2013 hat sich kaum etwas geändert, auch wenn ich meine Meinungsäußerung von damals seitdem hin und wieder ergänzt und an ihrem Feinschliff gearbeitet habe.
Leider hat sich nichts geändert, muß man sagen. Denn das bedeutet nicht weniger, als daß wiederum eine Legislaturperiode vergeudet wurde in der der Weg zu einer direkteren und vor allem repräsentativeren Demokratie hätte geebnet werden können. Stattdessen der übliche Mix aus Abbau der Bürgerrechte und Ausbau der Überwachung und natürlich die übliche Klientelpolitik. Stattdessen wurde uns die “Freigabe” der Abstimmung über die Ehe für alle von Medien als tolles Ding verkauft, obwohl der Fraktionszwang ohnehin dem Artikel 38 des Grundgesetzes widerspricht. Bei unseren systemkonformen Medien erzeugt derlei Perversion allerdings weder kritisches Nachhaken noch eine gelangweilte Erwähnung.
Leider gibt es Diskutanten vor der diesjährigen Bundestagswahl welche allen Ernstes vorschlagen unser aktuelles Wahlsystem, so wie es ist, von Wahlrecht auf Wahlpflicht umzustellen. Pflicht zur Wahl des geringeren Übels also. Da liest man dann Perlen wie diese hier:
Somit wäre der Zwang zur Stimmabgabe nicht anti-demokratisch, sondern ein Zugewinn an politischer Legitimität.
Unter aktuellen Gesichtspunkten mit einem Wahlsystem welches Überhangmandate, Fünfprozenthürde, kein kategorisches Nein, aber dafür das Herausrechnen von ungültigen und nicht abgegebenen Stimmen aus dem Endergebnis — in Bezug auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten — vorsieht, kann ich nicht erkennen wie die Pflicht zur Wahl des geringeren Übels (siehe mein Blogeintrag von 2013) zu einem Zugewinn an politischer Legitimation führt. Allenfalls führt sie zu einem Zugewinn an behaupteter beziehungsweise präsentierbarer Legitimation, und ist also nicht im Interesse der Wahlberechtigten, sondern im Interesse der zur Wahl stehenden Politiker.
Wenn beispielsweise jüngere Wähler sich durch die Pflicht zur Wahl des geringeren Übels genötigt sehen ihre Stimme abzugeben und dies auch tun, dürfte sich in der Tat der Druck dieser Wählerschicht auf die gewählten Politiker erhöhen. Allerdings ist es ja nicht so, als wären Parteiprogramme oder die Politik gewählter Politiker frei, ja geradezu direktdemokratisch, beeinflußbar. Daher mag eine Pflicht zur Wahl des geringeren Übels eine gewisse Auswirkung haben, aber die zementierten Grundannahmen des (Wahl-)Systems würden von derlei Pflicht nicht tangiert .
Kurzum: in dem Zug dessen Zugführer wir alle vier Jahre indirekt wählen dürfen und welcher alternativlos auf den Abgrund zurast, darf dann Dank der Jungwähler nicht nur der Zugführer alle paar Jahre ausgetauscht werden, sondern es gibt dann auch kostenloses WiFi. Geil! Katzenvideos auf der Fahrt in den Abgrund. Ein basisdemokratisches Träumchen.
Auch schön ist folgender Abschnitt, welcher fern jeder Realität einen — nüchtern betrachtet nichtvorhandenen — Zusammenhang zwischen Wahlversprechen vor der Wahl und Politik nach der Wahl zu konstruieren versucht:
Die Pflicht zur Stimmenabgabe jedoch würde auch die Wahlkämpfe positiv beeinflussen. Klientelistische Versprechen lediglich an die eigene Stammwählerschaft wären ebenso unpassend wie Versuche, die Anhänger der politischen Konkurrenz durch asymmetrische Demobilisierung von der Stimmabgabe abzuhalten.
Herr Ober, ich hätte auch gern von dem was der Herr da in seinem Pfeifchen raucht. Scheint ein wirklich starkes Stöffchen zu sein.
Oder hier:
Der Effekt wäre eher in der Gegenrichtung zu beobachten: nämlich in einer inhaltlichen Wiederannäherung der Parteien an den Mainstream. „Eine Wahlpflicht würde das strategische Kalkül von Parteien verändern“, meint so etwa Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. „Die Parteien müssten sich wieder um Wähler kümmern, ihnen ein attraktives Angebot machen“. Die weitgehende Entkoppelung der politisch Organisierten von der Mehrheitsgesellschaft und das Füllen dieser Lücke durch Populisten, wie derzeit in zahlreichen westlichen Demokratien zu beobachten, wäre so deutlich erschwert.
Das basiert dann wohl auf der Annahme, es gäbe (direktdemokratische?) Mittel um Politiker nach der Wahl auf ihre Wahlversprechen festzunageln? Außer revolutionsähnlichen Aufständen sehe ich da eher schwarz wenn es um Mittel für Wähler geht, die Gewählten zur Verantwortung zu ziehen. Eine ähnlich verquere Sichtweise also, wie bereits weiter oben, wenn man sich den bundesrepublikanischen Politikbetrieb mal ohne rosarote Brille betrachtet.
Einzelne Aspekte des australischen Wahlrechts sind ohne Frage interessant. Allerdings stehe ich einer Pflicht zur Wahl des geringeren Übels — kurz: Wahlpflicht — skeptisch gegenüber, solange es in unserem Wahlsystem und im Politikbetrieb folgende undemokratische Auswüchse gibt:
- Fraktionszwang/-disziplin im krassen Widerspruch zu Artikel 38 Grundgesetz, Absatz 1: Fraktionszwang und wirkgleiche Mechanismen gehören durch einen einzufügenden Satz in Artikel 38 GG, Absatz 1 oder einem neu einzufügenden Absatz in selbigem Artikel strikt verboten.
- Überhangmandate, welche Mehrheitsverhältnisse zum Teil stark verzerren: gehören strikt verboten.
- Fünfprozenthürde: diese gehört wahlweise abgeschafft oder auf zwei bis drei Prozent gesenkt.
- Überweisungsgebundene Parlamentarier: die Entschädigung für das Ausüben des Amtes als echter Volksvertreter gehört entsprechend (nach oben) angepaßt und die Ausübung von weiteren Ämtern, wie Mitgliedschaft in Aufsichtsräten und ähnlichem gehören verboten . Kombiniert man das dann mit einer Anwesenheitspflicht für alle Bundestagsdebatten und -abstimmungen, wäre dies im Lichte einer Diskussion um eine Wahlpflicht für Bürger nur recht und billig.
- Außerparlamentarische Interessenvertreter (auch bekannt als Lobbyisten): gehören transparent aufgelistet, inklusive Details zu Treffen mit den Volksvertretern (wann und wie oft, ebenso wie die Länge von Treffen) und von direkter Teilnahme an Entwurf und Ausarbeitung von Gesetzen oder gesetzähnlichen Regularien strikt ausgeschlossen. Gleiches gilt für Firmenmitarbeiter und Verbandsmitglieder, die ebenfalls nicht direkt an Gesetzen mitformulieren dürfen.
- Keine Möglichkeit zum Stimmentzug durch Abgabe einer Nein-Stimme oder Ungültigmachen des Wahlzettels: Einführung eines solchen Stimmentzugs, welcher sich natürlich unweigerlich auf das Endergebnis auswirken muß und also nicht außerhalb der 100% des Endergebnisses verbucht werden darf. Notfalls bleiben so Sitze in den Parlamenten leer. Das würde ganz sicher zu einem Umdenken in den Köpfen der Parteigranden führen.
Die Liste ist nicht vollständig. Aber sobald für diese Auswüchse eine Abhilfe existiert, darf aus meiner Sicht gern eine Wahlpflicht eingeführt werden. Wird sie vorher eingeführt, werde ich lieber ein Ordnungsgeld bezahlen als das unveränderte System durch das Nachkommen der Pflicht zur Wahl des geringeren Übels zu legitimieren. Die entsprechenden Bußgeldbescheide stelle ich dann stolz in eine Galerie hier im Blog.
// Oliver