Nichtwählen ist eine Alternative

Da in letzter Zeit die Nichtwähler in einer geradezu als Glaubenskrieg geführten Debatte immer mehr angegriffen werden, kann ich nicht umhin ein paar meiner Gründe nicht zu wählen und ein paar Antworten auf die so schlaumeierisch gegebenen provokativen “Argumente” zu geben, warum man doch geradezu wählen müsse. In der Vergangenheit war ich zumeist wählen und habe auch ein paarmal ungültig gewählt.

Meine Gründe, kurz und bündig

Kleineres Übel?

Ich sehe es nicht ein, daß ich nur die Wahl zwischen ein paar größeren und kleineren Übeln habe. Es ist eben keine Option immer nur das kleinere Übel zu wählen. Es wäre heute technisch möglich eine deutlich direktere Demokratieform zu verwirklichen, was aber nicht getan wird. Die politische Machtelite verhindert bereits seit Jahrzehnten erfolgreich bundesweite Volksabstimmungen und die C-Parteien gar mit “Argumenten” die fadenscheiniger nicht sein könnten. Man verweist dort auf die Weimarer Republik und die Machtübernahme Hitlers.
Damit kommen wir aber auch schon zum nächsten Punkt.

Meine Stimme als Legitimation?

Als Wähler würde ich das System (Wahlsystem und Demokratieform, sowie die handelnden Akteure) legitimieren. Nicht nur das. Ich würde sie sogar auf vier Jahre hin legitimieren. Ein Blankoscheck! … denn was geht Politiker ihr Geschwätz von gestern an? Nicht mit mir!

Fraktionszwang/-disziplin, Überhangmandate

Der Fraktionszwang, also daß Bundestagsabgeordnete nicht wie es im Grundgesetz steht ihrem Gewissen, sondern dem Abstimmungsverhalten ihrer Fraktion unterworfen sind; sowie Überhangmandate sind höchst undemokratisch. Auch die würde ich mit meiner Stimmabgabe weiter legitimieren. Gleiches gilt für die Fünfprozenthürde.

Genaugenommen handelt es sich für mich bei diesem Punkt um einen der wichtigsten Punkte mit denen ein Nichtwähler nicht nur seine Entscheidung rechtfertigen, sondern die existierende Perversion des Grundgesetzes im bundesrepublikanischen Politikbetrieb jenen Hetzern gegen Nichtwähler nahebringen kann.

Mehrheiten die keine sind: mein Legitimationsindex

Schauen wir uns das einmal beispielhaft anhand der Bundestagswahl im Jahr 2009 an. Ich lasse der Einfachheit halber die Überhangmandate heraus, obwohl die eine höchst undemokratische Verschiebung des Ergebnisses erzeugen.

Einerlei, die Gesamtzahlen:

  • Gültige Stimmen 43.371.190 (98,6%)
  • Ungültige Stimmen 634.385 (1,4%)
  • Wahlbeteiligung 44.005.575 (70,8%)
  • Nichtwähler 18.162.914 (29,2%)
  • Wahlberechtigte 62.168.489 (100,0%)

Nach Adam Riese und Eva Klein sind die 100% Wahlberechtigten also in 200% gültigen und ungültigen Stimmen, sowie Wählern und Nichtwählern abbildbar. 100% für die eine und 100% für die andere Gruppe. Ach ja und die eine Gruppe ignorieren wir einfach still und heimlich im Endergebnis. Somit kommen wir wieder auf 100% “insgesamt”. Macht ja Sinn. Oder? Schauen wir mal auf die Zahlen wie sie Statistiker und Wahlleiter nach Pippi-Langstrumpf-Mathematik ermitteln (nur die ersten paar Parteien):

  • CDU 11.828.277 (27,3%)
  • SPD 9.990.488 (23,0%)
  • FDP 6.316.080 (14,6%)
  • DIE LINKE 5.155.933 (11,9%)
  • GRÜNE 4.643.272 (10,7%)
  • CSU 2.830.238 (6,5%)

Man sieht hier schon wie sich die klare Mehrheit1 der derzeit regierenden schwarz-gelben Koalition mit 48,4% herauskristallisiert. Und diese Mehrheit ist die Mehrheit bei den abgegebenen gültigen Stimmen!

Prozentrechnung ist Anteil geteilt durch Gesamtzahl mal Einhundert, richtig? Mal gucken:

  • CDU: 11.828.277 / 62.168.489 * 100 = 19,0%
  • SPD: 9.990.488 / 62.168.489 * 100 = 16,1%
  • FDP: 6.316.080 / 62.168.489 * 100 = 10.2%
  • DIE LINKE: 5.155.933 / 62.168.489 * 100 = 8,3%
  • GRÜNE: 4.643.272 / 62.168.489 * 100 = 7,5%
  • CSU: 2.830.238 / 62.168.489 * 100 = 4,6%

Ich nenne das Legitimationsindex. Oooooch, die CSU scheitert mit 4,6% an der Legitimationshürde? :mrgreen:

Es gibt kein Nein

Es gibt zwar mittlerweile eine Nein-Partei in der ich zeitweise auch Mitglied war, aber die hat bei den Bundestagswahlen 2013 ganze 290 Stimmen eingefahren. Aussichtslos. Es gibt somit für mich keinerlei Möglichkeit dem System durch meine Stimmabgabe eine Absage zu erteilen.

Würden die ungültigen Stimmen überhaupt erst einmal in das Gesamtergebnis einfließen, könnten sich sicher auch noch mehr Nichtwähler aufraffen und ungültig wählen gehen. Aber so ist es mehr etwas was man für sich selber tut. Seien wir doch ehrlich, die Nichtwähler und Ungültigwähler werden von den Populisten auf Seiten der Wähler heute genau wie vom Wahlsystem in einen Topf geworfen.

Zusammengefaßt

Kurzum: ich entziehe dem System durch mein Nichtwählen die Legitimation. Dieser Entzug von Legitimation ist ebenso klein und unscheinbar wie umgekehrt die einzelne Stimmabgabe. Wenn ihr Wähler also meint, das kleinere Übel zu wählen würde mehr bringen als dem System die Legitimation zu entziehen. Bitte sehr: Jeder soll nach seiner Façon selig werden! Nur hört auf gegen uns Nichtwähler zu hetzen!

Repliken auf bekannte “Argumente”

Nichtwähler ändern nichts

Das ist nur oberflächlich betrachtet korrekt. Wenn die Wahlbeteiligung irgendwann unter 50% fällt und somit selbst eine Koalition aus allen Parteien eindeutig nur noch eine Bevölkerungsminderheit repräsentiert, wird auch die politische Machtelite in Erklärungsnöte geraten. Legitimation eben. Eigentlich ist das bereits der Fall, aber dankbarerweise hört investigativer Journalismus dann doch immer kurz vor dem Infragestellen des Establishments auf.

Nichtwähler haben keine Meinung

Nichtwähler haben durch das Wahlsystem und die entsprechenden -gesetze nur keine Möglichkeit der Meinungsäußerung auf dem Stimmzettel. Nur weil ich einer Bevölkerungsgruppe effektiv einen Knebel verpasse, darf ich das nicht damit verwechseln, daß diese Gruppe nichts zu sagen hätte oder dies nicht wolle. Siehe weiter oben: führt eine Nein-Stimme ein die sich innerhalb der 100% gültigen Stimmen bewegt und dann gucken wir mal.

Es gibt genug Parteien, da ist für jeden etwas dabei

Richtig, nur leider habe ich keine Möglichkeit Programmpunkt a von Partei C und Programmpunkt d von Partei Z in meiner Stimmabgabe auszudrücken. Ich will differenzieren können. Das kann wohl kaum zuviel verlangt sein.

Insofern greift auch der bei den Piraten scheinbar verbreitete Spruch “magst du weder Pepsi noch Coca Cola, probier mal Mate” deutlich zu kurz. Aber bleiben wir einmal bei der Getränkemetapher. Während ich mir also meine Getränkekarte für die nächsten vier Jahre zusammenstellen möchte, ist das Angebot der etablierten Parteien mir die Getränke ihrer Wahl in vorher gemischten Fässern auf Vorrat für die vier Jahre anzuliefern und mir dann die Wahl zu lassen ob ich lieber einen Schuß Gülle (größeres Übel) oder einen Schuß Pisse (kleineres Übel) daruntergemischt haben möchte. Und die Parteien behalten sich natürlich vor gegebenenfalls Gülle statt Pisse hinzuzufügen, falls sie ihr eigenes Geschwätz von vor der Wahl nicht mehr interessiert — was ja üblicherweise der Fall ist. Nein Danke!

Nichtwähler dürfen sich politisch nicht äußern

Ach? Noch ein Maulkorb? Nachdem uns schon eine Nein-Option nicht gegeben ist, dürfen wir uns also auch nicht darüber äußern?

Nichtwähler dürfen das Wahlergebnis nicht kritisieren

Warum eigentlich nicht? Das Wahlergebnis ist doch Ausdruck des Wahlsystems und der entsprechenden -gesetze. Wenn ich die kritisiere und das durch sie produzierte Ergebnis, geht’s auch nicht?

Nichtwähler können doch eine Partei gründen

Ja, hier zeigt sich wer vereinfacht. Uns Nichtwählern wird ja immer unterstellt wir seien etwas einfach gestrickt, hätten keine politische Meinung und dergleichen. Wie kommt man denn aber bitte zu der Ansicht Nichtwähler hätten alle das gleiche Motiv zum Nichtwählen?

Nichtwähler sind arrogant, in anderen Ländern sterben Menschen für Demokratie

Wenn man Demokratie als binäres Konzept betrachtet und somit nur ihre Anwesenheit oder Abwesenheit akzeptiert, jedoch Abstufungen wie direkt und korrumpiert eine Demokratie sein kann nicht betrachtet, ist auch dieses Argument ein hervorragendes Totschlagargument. Sehr geeignet für Twitter & Co. In einer ernstgemeinten und ernstzunehmenden Diskussion hat diese Aussage aber nichts verloren. Da die Defizite des aktuellen Systems offenbar zementiert sind, sollte man vielleicht etwas tiefer buddeln als nur an der Oberfläche zu kratzen. Genau wie es eine für mich unsagbar populistische und bescheuerte Aussage ist, daß das aktuelle System das beste denkbare ist, kann man nicht auf der Basis Abwesenheit von Demokratie (bspw. Diktatur) und der Anwesenheit einer bestimmten und verbesserungswürdigen Demokratieform einer Seite Arroganz unterstellen. Dies dient nur dazu die Diskussion abzuwürgen und ist in keinem Fall konstruktiv. Winston Churchill hat es schön auf den Punkt gebracht:

Many forms of Government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time ….
(Winston Churchill, in a House of Commons speech on 1947-11-11)

Einfügung #1:

Nichtwähler sind feige

Okay, schneller kommt man an ein argumentum ad hominem mit drei Worten nicht, denke ich. Wes Grundes? Feigheit würde ja die Furcht vor etwas implizieren, wenn doch eigentlich nur Abscheu und Zorn bestehen.

Schaut man sich auch die mediale Hatz auf Nichtwähler an, kann wohl kaum von Feigheit die Rede sein, wenn ich als Nichtwähler statt mit populistischen Parolen mit handfesten Argumenten antworte.

// Oliver

PS: auch interessant: Apologie des Nichtwählens von Marcus Klöckner bei Telepolis.

  1. liebe Schüler, wenn ihr das lest, bildet euch bloß nicht ein eure Mathematiklehrer mit dem Argument überzeugen zu können, unter fünfzig Prozent sei auch eine Mehrheit. Die Mathematik der Demokratie ist nämlich eine andere als jene die in Wissenschaft und Ingenieurwesen Anwendung findet. []
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One Response to Nichtwählen ist eine Alternative

  1. Helmut says:

    Ich sehe das genauso. Am Tag der Wahl werde ich wieder in meinem Selbstversorgergarten stückweise an meiner Unabhängigkeit arbeiten. Das bringt mir mehr als die Unfähigen zu wählen. Und der dümmste Spruch, den ich je hörte: Wer nicht wählt darf sich auch nicht beschweren! Hört und liest man ja oft. Klar darf ich mich beschweren, wegen des Nichtdurchblickens und des Wählens der nächsten/gleichen Unfähigen. Nennt man, ich denke, auch Wahrnehmungsstörung. Ich gehe arbeiten und zahle (leider) Steuern für den ganzen Blödsinn, mehr Systembeteiligung kommt von mir nicht mehr. Und zum Thema Wahl ansich: Die Strippenzieher bestimmen, das ändert auch wählen nicht.

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